Warum moralische Verantwortung kein individuelles Eigentum ist
In der Debatte um den freien Willen hat der Philosoph Harry Frankfurt in den 1960er Jahren ein berühmtes Gedankenexperiment vorgelegt, das bis heute polarisiert. Die sogenannten Frankfurt Cases sollen zeigen, dass eine Person auch dann moralisch verantwortlich sein kann, wenn sie keine echte Alternative zu ihrer Handlung hatte.
Ein typisches Beispiel: Eine Figur namens Black will, dass Jones eine bestimmte Handlung ausführt. Falls Jones zögern sollte, wird Black heimlich eingreifen und ihn nötigen. Doch Jones handelt wie gewünscht – freiwillig, ohne dass Black eingreifen muss. Frankfurt schließt daraus: Da Jones ohnehin das tun wollte, was er getan hat, ist er voll verantwortlich – obwohl er keine reale Möglichkeit hatte, anders zu handeln.
Soweit die Theorie. Doch genau hier, so argumentiere ich, liegt ein schwerwiegender Fehler.
Frankfurt behauptet, dass allein die inneren Zustände – Wünsche, Absichten, Motive – darüber entscheiden, ob jemand verantwortlich ist. Wenn also jemand tut, was er ohnehin tun wollte, sei er verantwortlich – unabhängig davon, ob äußere Mächte (wie Black) bereitstehen, ihn zu zwingen.
Doch das übersieht etwas Entscheidendes: Kein Mensch kennt alle Ursachen seines eigenen Handelns. Es gibt ein epistemisches Blindfeld, eine strukturelle Unwissenheit gegenüber den tatsächlichen Bedingungen der eigenen Entscheidung. Diese Lücke bedeutet: Ein Mensch kann nicht allein über seine Verantwortung urteilen – dazu braucht es andere.
Verantwortung ist keine isolierte Eigenschaft, kein Besitz des Einzelnen. Sie entsteht im Zwischenraum – in einer interpersonalen Proposition, einer Beziehung zwischen dem, der handelt, und denen, die sein Handeln beurteilen. Erst durch dieses Zusammenspiel von Innen- und Außenperspektive entsteht ein stimmiges Bild moralischer Verantwortung.
Wenn also jemand wie Jones sagt: „Ich habe aus eigenem Antrieb gehandelt“, dann ist das aus seiner Sicht wahr. Doch wir – die Beobachter – wissen: Black war da. Selbst wenn er nicht eingegriffen hat, verändert allein seine Existenz den Rahmen. Das bedeutet: Verantwortung ist nicht absolut, sondern abgestuft. Sie hängt davon ab, wie viel Freiheit tatsächlich bestand – und wie viel davon bewusst war.
Frankfurts Theorie ignoriert diese Asymmetrie zwischen Innen- und Außenblick. Doch genau sie ist entscheidend. Denn nur wenn beide Perspektiven zusammenkommen, kann man sagen: Hier war jemand wirklich verantwortlich. Verantwortung entsteht nicht im Innern des Handelnden, sondern im Dialog – und nur dort.
Wir sollten daher aufhören, Verantwortung als metaphysisches Eigentum zu behandeln. Es geht nicht um individuelle Träger, sondern um strukturelle Relationen. Es geht um Geschichten, Narrative und Verständigung. Und es geht darum, dass niemand allein für sich beanspruchen kann, vollständig über seine eigene moralische Lage Bescheid zu wissen – so ehrlich er sich selbst gegenüber auch ist.
Am Ende zählt nicht, was einer „in sich selbst“ fühlt, sondern was wir gemeinsam aushandeln. Verantwortung ist keine einsame Sache. Sie gehört uns allen – im Austausch, nicht im Alleinbesitz.
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