Was macht moralisches Handeln aus? Wann ist eine Handlung wirklich unsere eigene? Und wo endet Verantwortung, wenn wir nicht einmal genau wissen, warum wir tun, was wir tun?

Diese Fragen führen direkt ins Zentrum eines philosophischen Problems, das heute aktueller denn je ist: die Zuschreibung von Handlungsfähigkeit. In einer Welt, die vom moralischen Urteil lebt – von Medienempörung bis Social-Media-Shaming –, wird selten gefragt, ob wir überhaupt verstehen, was es bedeutet, jemandem eine Handlung „zuzuschreiben“. Was meinen wir, wenn wir sagen: „Er wusste, was er tat“?

Zwischen Wissen und Wollen: Die Rolle des Bewusstseins

Ein gängiger Gedanke lautet: Wer etwas bewusst tut, handelt verantwortlich. Doch was heißt „bewusst“ genau? Der Philosoph Alfred Mele argumentiert, dass viele unserer Handlungen aus sogenannten here-and-now intentions hervorgehen – aus aktuellen Absichten, die wir im Moment des Handelns haben. Diese Absichten sind für Mele der Schlüssel zur Zuschreibung von Kontrolle, also letztlich zur Zuschreibung moralischer Verantwortung.

Doch das greift zu kurz. Denn oft sind unsere Handlungen gar nicht rein bewusst motiviert. Wir alle kennen Situationen, in denen wir etwas „wie automatisch“ tun – scheinbar ohne bewusste Steuerung, aber dennoch in Übereinstimmung mit unseren Wünschen. Oder umgekehrt: Wir wollen etwas Bestimmtes nicht mehr tun (z. B. rauchen), tun es aber trotzdem. Sind wir dann nicht mehr verantwortlich?

Der blinde Fleck: Das Unbewusste

Mele blendet in seiner Theorie weitgehend das Unbewusste aus. Er spricht zwar von Absichten und Motivationen, aber setzt dabei meist voraus, dass diese bewusst sind. Doch viele Handlungen – gerade die, die wir später bereuen oder nicht erklären können – entspringen unbewussten Konflikten. Wir handeln dann nicht gegen besseres Wissen, sondern aus einem inneren Widerstreit zwischen bewusster Überzeugung und unbewusster Tendenz.

Damit gerät die klassische Zuschreibung von Verantwortung ins Wanken. Denn wenn wir nur die bewusste Seite betrachten, blenden wir wesentliche Dynamiken aus – etwa, warum jemand nicht „nein“ sagen kann, obwohl er es möchte. Oder warum jemand ausgerechnet in Momenten von Stress oder Einsamkeit wieder in alte Muster fällt.

Zuschreibung ist kein neutrales Etikett

Zuschreibung klingt harmlos – als ginge es darum, die Handlung zu identifizieren. In Wahrheit ist sie ein Machtakt. Wenn wir sagen: „Er hat es getan“, dann meinen wir meist auch: „Er hätte es anders machen können.“ Wir knüpfen also an die Zuschreibung ein ganzes Netz aus Erwartungen, Normen, Sanktionen.

Doch diese Zuschreibung funktioniert nur, wenn wir dem Handelnden ein Minimum an Bewusstheit und Kontrolle unterstellen. Das Problem: Wir tun das oft automatisch, ohne zu hinterfragen, wie viel Kontrolle derjenige tatsächlich hatte – psychologisch, situativ, sozial. So entstehen Urteile, die auf fragilen Grundlagen stehen.

Handlung ist mehr als Bewegung

Philosophisch interessant ist auch der Begriff der „Handlung“ selbst. Was unterscheidet eine bloße Bewegung – etwa das Zucken eines Arms – von einer intendierten, bedeutungsvollen Handlung? Mele verweist auf kausale Verknüpfungen: Eine Bewegung wird dann zur Handlung, wenn sie durch Absicht, Motivation oder Wunsch gesteuert ist.

Doch dieser Begriff von Handlung bleibt vage. Was ist mit Handlungen, die sich zwischen Automatismus und Intention bewegen? Etwa das nervöse Fingertrommeln beim Warten oder das Tippen auf dem Smartphone, ohne zu wissen, warum man die App geöffnet hat. Handeln wir da wirklich?

Vielleicht ist die Zuschreibung von Handlung – wie von Verantwortung – immer schon ein interpretativer Akt. Wir sehen ein Verhalten und legen ihm Bedeutung bei. Ob es tatsächlich intendiert war, bleibt dabei oft offen.

Moralische Urteile brauchen Demut

Wenn wir also anderen Verantwortung zuschreiben, handeln wir nicht neutral. Wir treffen eine Entscheidung über Schuld, Autonomie, Freiheit – und tun dabei oft so, als sei das alles offensichtlich. Doch nichts daran ist selbstverständlich.

Ein gerechtes moralisches Urteil beginnt damit, das eigene Wissen um psychologische und soziale Komplexität ernst zu nehmen. Es beginnt mit der Einsicht, dass nicht alles, was wie eine bewusste Entscheidung aussieht, tatsächlich eine war. Und dass viele Handlungen weniger aus freier Wahl entstehen als aus Dynamiken, die sich unserer bewussten Kontrolle entziehen.

Deshalb braucht moralisches Denken vor allem eines: Demut. Die Demut, nicht vorschnell zu urteilen. Die Demut, unsere Begriffe – Bewusstsein, Handlung, Kontrolle – immer wieder neu zu prüfen. Und die Bereitschaft, auch unsere Zuschreibungen in Frage zu stellen, wenn sie mehr über unsere Erwartungen aussagen als über das tatsächliche Handeln des anderen.