Die Universität Wien, um 1873

Uni Wien um 1873


Ich erinnere mich noch genau, wie mich bereits als Kind der Mythos des Wissenschaftlers in seinen Bann zog. Schon damals übten die rätselhaften Zeichen in den Mathebüchern eine eigentümliche Faszination auf mich aus, ebenso wie die Vererbungsdiagramme in den Biologiebüchern meiner Mutter oder die unzähligen Enzyklopädien, die ich mit staunendem Eifer durchblätterte. Es waren vor allem die alten, weißen, weisen Männer, deren Bilder in mir einen bleibenden Eindruck hinterließen. Ihr Geist, ihr Ernst, ihre stille Größe wirken bis heute in meiner Vorstellung fort. All das wurzelte in einem tiefen, kaum zu stillenden Interesse und einer unerschöpflichen Neugier. Ich verstand die Symbole nicht, aber ich spürte, dass sie bedeutungsvoll waren. Ich wusste intuitiv, dass sie nicht bloß da waren, sondern auf etwas dahinter verwiesen, auf ein abstraktes, strukturelles Prinzip, das sich durch sie bloß andeutete. Es war klar: Da ist mehr. Und dieser geheimnisvolle Schleier, dieser Mystizismus hinter der wissenschaftlichen Symbolik, war es, der mich antrieb. Ich wollte verstehen, entschlüsseln, durchdringen, ordnen und neu schaffen.

Heute aber sehe ich all das, was mich damals so tief prägte, gefährdet. Der einst kühle, rationale, unnahbare Mystizismus ist einer warmen, empathischen, beinahe therapeutischen Aufklärung gewichen. Ein Denken, das nicht mehr von dieser Dimension durchdrungen ist, scheint kaum mehr möglich. Das Persönliche und das Politische sind überall eingedrungen und haben sich, schleichend und fast unbemerkt, zum alleinigen Maßstab erhoben. Die Wissenschaft, einst Ort strenger Klarheit und innerer Unabhängigkeit, trägt nun ein anderes Gewand. Sie ist fürsorglich geworden und zugleich abwehrend gegenüber allem, was nicht in diesen Rahmen passt. Insbesondere Souveränität, Unabhängigkeit und gedankliche Unbeschwertheit werden heute rasch als Ausdruck verantwortungsloser Ignoranz gedeutet. Die Freiheit des Denkens, das stille Forschen in eigener Tiefe, die Präsentation unkonventioneller Gedanken, gerät unter Legitimationsdruck. Der Konformitätszwang, der von der wissenschaftlichen Methode ausgeht, ist nicht minder wirksam als die algorithmische Vorstrukturierung digitaler Informationswelten. Die wissenschaftliche Arbeit hat ihren Zauber verloren. Sie wird zum funktionalen Prozess, zur Maschine, die mit Daten gefüttert und mit vordefinierten Methoden abgefragt wird. Der Ausgang ist beliebig oder abhängig von Vorlieben, aber selten von echtem Erkenntnisinteresse getragen. Immer weniger Ideen stehen auf dem Prüfstand; Daten und Statistik scheinen alles zu dominieren und die neue Klasse der "normal Wissenschaftler" zu hofieren.

Im Zentrum steht nicht mehr die Frage, nicht das Staunen, nicht das Dunkel der Welt, das verstanden sein will, sondern ein politisch-ethischer Aufklärungsimpuls, der seinem Wesen nach eindimensional bleibt und aus dem kein Ausbrechen mehr gelingt. Was heute als „gute Wissenschaft“ gilt, ist allzu oft ein normiertes Produkt algorithmischer Verwertbarkeit, kombiniert mit moralischer Selbstvergewisserung. Damit stirbt Wissenschaft als das, was sie war: ein Ausdruck leidenschaftlicher Neugier, tiefen Interesses, unstillbaren Fragens und gedanklicher Freiheit. Vieles, was heute als Studie firmiert, ist nicht mehr als ein Erzeugnis, ein kalkulierter Output.

Die ungezügelte Leidenschaft, einst Triebkraft des Forschens, ist vielfach einer anderen Form von Getriebenheit gewichen, einem innerlich aufgeladenen Pflichtgefühl. „Ich muss, ich will, ich soll, ich kann nicht anders.“ Doch wie lässt sich dieser innere Zwang mit dem Anspruch echter Fürsorge oder wissenschaftlicher Redlichkeit in Einklang bringen? Es wirkt wie eine künstliche Intelligenz, die vorprogrammierte Empathie innerhalb klar definierter moralischer Leitplanken simuliert. Umso unverständlicher ist es für mich, wie ein so komplexes Wesen wie der Mensch sich mit einer derart groben, künstlichen Moral abfinden kann.

Die Universität Wien, dieser traditionsreiche, geschichtsträchtige Ort, strebt in ihrem Moralismus nach unten und täuscht die Öffentlichkeit mit der festen Behauptung des Gegenteils. Es schmerzt, mitansehen zu müssen, wie die Wissenschaft politisiert, emotionalisiert und entleert wurde. Zurück bleibt ein Gefühl von Ohnmacht und Enttäuschung. Was die derzeitige Führung aus diesem Ort gemacht hat, ist nichts weniger als beschämend. Es ist höchste Zeit für einen Wandel, einer Renaissance.